Baugeschichteist objektiv der Geschehenszu- sammenhang, in dem die Menschheit als ganze oder ein Kulturkreis, ein Staat, ein Volk, eine Stadt erwachsen ist und sich verändert hat;
subjektiv ist sie das Wissen um diesen Zu- sammenhang, seine Erforschung und Darstel- lung. Beide Bedeutungen gehören zusammen, weil das Vergangene zwar an sich objektive Wirklichkeit ist, aber erst als Gegenstand eines historischen Bewusstseins Geschichte wird.
Wird Stadtplanung ohne dieses Bewusstsein betrieben, besteht die Gefahr, dass sie zur Utopienträumerei entartet.
Im Laufe der Geschichte haben sich – bedingt durch die Entwicklung des menschlichen Zu- sammenlebens – unterschiedliche Siedlungs- formen herausgebildet. Die Lage, der Grund- riss und der Aufbau einer Siedlung sagen et- was über die gesellschaftlichen und wirtschaft- lichen Bedingungen in der jeweiligen Entste- hungszeit.
Um das Jahr 3000 v. Chr. gab es bereits Städ- te in Vorderasien (Jericho), Ägypten (Hiera- konpolis), Mesopotamien (Uruk) und im Iran (Susa). Während sich die Erdbevölkerung (s.
Tabelle 2.1) in den folgenden 1500 Jahren auf ca. 67 Mio. Menschen verdoppelte, stieg die Zahl der uns bekannten Stadtgründungen in diesem Zeitraum auf mehr als das Sechsfa- che (s. Tabelle 2.2): die Ausbreitung der Stadtkultur erfolgte klimatisch begünstigt zwischen dem 20. und 40. Breitengrad vor- wiegend an Meeresküsten und Flüssen, sie erstreckte sich nach W bis Südspanien und nach O bis zum Gelben Meer. Weitere an- derthalb Jahrtausende mussten vergehen, bis die Stadtkultur mit dem sich beschleunigen- den Wachstum der Erdbevölkerung durch West- und Mitteleuropa bis zu den britanni- schen Inseln vordrang.
Tabelle 2.1: Entwicklung der Erdbevölkerung Entwicklung der Erdbevölkerung
Zunahme in Mio.
Zeitraum von auf
Verdoppelung in ungefähr
4000 - 2500 20 40 1500 J.
2500 - 1000 40 80 1500 J.
1000 - Chr. Geburt 80 160 1000 J.
Chr. Geburt - 900 160 320 900 J.
900 - 1700 320 600 800 J.
1700 - 1850 600 1200 150 J.
1850 - 1950 1200 2500 100 J.
1950 - 1980 2500 5000 30 J.
Tabelle 2.2: Zahl der nachgewiesenen Städte Zahl der nachgewiesenen Städte vor Chr.
in um 3000 um 2500 um 1900 um 1400
Ägypten 4 6 10 12
Mesopotamien 5 12 22 22
Vorderasien 4 6 13 20
Iran 2 3 3 5
Kleinasien 0 3 6 9
Kreta 0 0 0 4
Griechenland 0 0 0 10
Südspanien 0 0 0 2
Indusland 0 0 10 10
Die Geschichtsschreibung der frühzeitlichen Stadtgründungen, ihrer Planung und ihres Städ- tebaus muss auf die Ausgrabungsergebnisse der Archäologie als Beleg zurückgreifen; doch reichen diese aus, um die Verwendung des Begriffes Stadtplanung schon für diese Zeit zu rechtfertigen. Ein Vergleich der beiden am Euphrat gelegenen Städte Ur (Bild 2.1) und Borsippa(Bild 2.2) zeigt folgende Gemeinsam- keiten auf: die SO-NW-Orientierung der Stadt- anlage (begründet durch die Hauptrichtung der
»guten Winde« aus NW), die Befestigung der Stadt durch Mauern und Kanäle, die rechteckige Anlage des durch Mauern geschützten »heiligen Bezirkes« (griech.temenos), die Lage des größ- ten Palastes in der Nordecke der Stadt am Was- ser und die aus Hofhäusern unregelmäßig zu- sammengesetzter Wohnquartiere.
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Bild 2.1: Ur (Sumerische Stadt 2000 v Chr.) Lage auf einem Hügel an der Euphrat Mün- dung. Ovale Anlage, Wall mit Mauer und kanalisiertem Graben. Grundriss rechtwinklig mit zwei Hauptachsen. Ausgewiesener Tem- pelbezirk, spätere Palastanlage. Wohnviertel unregelmäßig im regelmäßigen Straßennetz.
Unterschiedliche Hausgrößen lassen soziale Mischung vermuten.
Bild 2.2: Borsippa (Mesopotamien, Babyloni- sche Zeit 600 – 500 v. Chr.)
Quadratischer Grundriss mit Mauern und Gräben, Straßenraster mit heiligem Bezirk in der Mitte. Palast und Patrizierviertel in Rand- lage.
An beiden Stadtgrundrissen ist die grundsätzlich gleiche Differenzierung der Flächennutzung und deren Abstimmung auf das jeweils vorherr- schende Verkehrssystem ablesbar. Die Unter- schiede zwischen beiden Plänen spiegeln die technische und gesellschaftliche Entwicklung während der über 1000 Jahre wider, die zwi- schen der Gründung beider Städte vergingen.
Die der Landschaft angepasste Ovalform der frühsumerischen Stadt Ur verfestigt sich im babylonischen Borsippa zum klaren Rechteck mit erkennbaren Proportionen in der Grundriss- aufteilung. Das als Vorstadt angelegte Patrizier- viertel in Borsippa kennzeichnet die weiter fortgeschrittene Differenzierung in der Gesell- schaftsstruktur. Aus der sumerischen Zikkurat, dem zentralen Stufentempel auf einem Terras- senberg, wurde der babylonische Stufenturm entwickelt, der Rest des Turmes von Borsippa galt in späthebräischtalmudischer Zeit als der
»Turm zu Babel«. Die vermutlich im 3. Jahrtau- send gelungene Erfindung des Rades führte zum pferdbespannten Streitwagen und zum Ochsen- karren als Verkehrsmittel; dafür war ein neues Verkehrswegesystem erforderlich, ein Haupt- straßennetz, das inBorsippa selbst nach heuti- gen Maßstäben meisterhaft angelegt worden war. Während in Ur die Waren auf Booten in die innerstädtischen Häfen gelangten, wurden sie inBorsippavor den Stadttoren auf Esel und Karren umgeladen.
Eine Besonderheit im Stadtplan von Borsippa muss auffallen: Da der Tempelturm und der Nana-Tempel im Temenos auf die Einzugs- straße des Königs ausgerichtet waren, ergab sich für den Haupthof desTemenoseine nicht rechtwinklige Grundfläche; diese Einzugsstra- ße vom Nordosttor folgte nicht dem Prinzip der sich rechtwinklig kreuzenden Straßen, sie führte direkt zumTemenos. Derartige Verstöße gegen ein Planungsprinzip führen oft zu städ- tebaulichen reizvollen Lösungen. Als Blick- achsen werden sie erst der Neuzeit, besonders dem Barock zugeschrieben.
Griechenland
Die klassische Antike wird zumeist wegen ihrer maßstabsetzenden Architekturleistungen (Tempel, öffentliche Gebäude) bewundert.
Welche Bedeutung die Griechen der Stadt
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beimaßen, geht aus den Worten Aristoteles (384-322 v. Chr.) hervor: »Das, was den Men- schen über den Zustand des Barbarentums erhebt, in dem er bloß ein wirtschaftliches Wesen ist, das, was ihn befähigt, alle seine höheren Fähigkeiten, die im Barbarentum nur schlummern, zu entwickeln, nämlich:
gut und richtig zu leben statt nur zu leben, das war seine Teilnahme und Mitgliedschaft an einer Stadt. Des Menschen körperliches und animalisches Dasein mag durch das Land befriedigt sein, seine geistigen Bedürf- nisse können nur durch die Stadt erfüllt wer- den.«
– Verteidigung (Mauern, Akropolis als Fluchtburg, Ausnutzung der Topographie) – Selbstverwaltung (Platz als Raum für Han-
del und öffentliches Leben)
– Religion (Tempel und Heiligtümer an ex- ponierten Stellen auch im Stadtraum) Typisch für den Stadtgrundriss ist die frei- rythmische Gliederung der Gesamtanlage, die Veränderungs- und Erweiterungsfähigkeit und die Anpassung an die landschaftlichen und topografischen Begebenheiten.
Bild 2.3: Alexandria:(Ägypten 331 v. Chr.) Von Alexander dem Großen ge- gründet. Nilmündungsgebiet mit Ha- fenanlage. Hauptstraße verbindet Hafen am See mit Hafen am Meer mit Agora und Theater.
Bild 2.4: Legionslager Neuß:(bis 100 n . Chr.) Klassisches Römerlager mit dif- ferenzierter Anlage, Achsenkreuz der Straßen decumanus und cardo, Fo- rum am Schnittpunkt mit Praetorium.
In den Quartieren Depots, Magazine, Unterkünfte für Offiziere und Mann- schaften. Vorbild für Kolonialstädte.
Bild 2.5: Frühzeitliche Stadtanlagen Trier:(43 n. Chr. als Stadt ausge- baut) Moseluferstraße und Fluss- übergang mit alter Treverersiedlung.
Mittig gelegenes Forum, am Hang Theater, Thermen, Stadion, Stadt- mauer aus dem 4. Jh. n. Chr.
Im Hellenismus (350-100 v. Chr.) erweiterte sich durch die Eroberungsfeldzüge Alexanders
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des Großen der griechische Machtbereich. Er war darauf angewiesen schnell und planmäßig Siedlungen als Handelsplätze und Stützpunkte anzulegen. Diese Städte waren geprägt durch eine gerasterte Grundform und ein einheitli- ches Muster von Blockstrukturen.
Römisches Reich
Die römischen Festen (castra Romana) lassen sich von den rechteckigen hellenistischen Militärbefestigungen ableiten. Dieses Castrum wurde für 500 Jahre Grundlage des römischen Städtebaus, wann und wo immer römische Legionen das Imperium Roms ausdehnten: bis Paris, Wien, Bonn und London. Im Grundriss war es quadratisch oder rechteckig, seine Sei- ten nahmen die Haupthimmelsrichtungen auf.
Das römische Forum, der griech. Agora nach- gebildet, und die öffentlichen Gebäude lagen am Schnittpunkt der beiden Hauptstraßen: Der Cardoführte vom Nord- zum Südtor, der De- cumanus vom West- zum Osttor. Die Neben- straßen wurden rasterförmig eingefügt. In etlichen Fällen versprang der Cardo am Fo- rum. Den Gründungsakt gliederten die Römer nach etruskischen Riten in vier Vorgänge:
1. inauguratio = Standortbestimmung durch Prüfung tier. Eingeweide als Vorzeichen;
waren diese gesund, wurde auch für die Menschen Gesundheit erwartet,
2. limitario = Bestimmung der äußeren und inneren Grenzen,
3. orientatio = Ausrichtung des Decumanus zwischen Osten und Westen und
4. consecratio = Weihe der Stadt unter den Schutz der Götter, wodurch die als Stand- ortwahl und Flächennutzungsplanung zu bezeichnenden Handlungen Verbindlich- keit für jedermann erhielten.
Germanische Siedlungsformen(Bild 2.6 a-f) Im mitteleuropäischen Raum in der Zeit der nomadisierenden Jäger (1000 v. Chr.) sind nur vorübergehend benutzte Rastplätze nachweis- bar. Erst in keltischer Zeit (seit 700 v. Chr.) mit der Sesshaftwerdung der Sippen und Stämme haben wir dauerhafte Siedlungen, in denen Menschen Ackerbau betreiben, Vieh halten und sich Arbeit nach ihren Fähigkeiten teilen. Je wohlhabender und unabhängiger
diese Gruppen wurden, desto notwendiger wurde es, sich gegen Gefahr von außen zu verteidigen. Dies führte zu befestigten Sied- lungen. Noch heute nachweisbare Formen, die den Beginn der Landnahme und Sesshaftigkeit kennzeichnen, sind:
a) der Weiler (Rundling) Bild 2.6a b) das Rundplatzdorf Bild 2.6b c) das Haufendorf Bild 2.6c d) das Straßendorf Bild 2.6d e) das Angerdorf Bild 2.6e f) das Waldhufendorf Bild 2.6f 1.5 Mittelalter(Bild 2.7 a-b)
Die keltischen „oppida“ wurden zwischen 500 und 100 v. Chr. aufgegeben oder verloren ihre Bedeutung als Siedlung, Die Römerstädte wurden 300 n. Chr überrannt und geplündert, behielten jedoch vielfach ihre Befestigungen, ihre verkehrswichtige Lage und bewahrten zum Teil ihre große Bedeutung für die Christi- anisierung. Als Keime für spätere Siedlungen blieben einstraßige Anlagen der Händlersied- lungen (Straßburg).
Nachdem die großen Völkerbewegungen ab- geklungen waren und so etwas wie eine politi- sche Ordnung eintrat, bildete sich allmählich wieder eine Zivilisation, die aus einigen bäuer- lichen, sich selbst versorgenden Anwesen bestand und einem ausgeprägten Bedürfnis nach Warenaustausch.
Dies machte Märkte erforderlich. Es entstan- den eine große Anzahl an festen Plätzen und durch die neue soziale Ordnung des Lehnsystems entstand eine große Anzahl von Herrensitzen. Die Christianisierung be- günstigte die Gründung von Klostern und es entstanden Bergwerksstätten (durch die Funde von Bodenschätzen) und Orte mit Salz- quellen.
Alle Grundherren hatten ein Interesse an der Förderung und dem Schutz dieses Sys- tems, da die landwirtschaftlichen Erträge eine Steigerung über einen gewissen Mittel- wert hinaus kaum zuließ, während eine nicht bäuerliche Wirtschaft eine Steigerung der Wirtschaftskraft bot. Daraus folgte, dass den Bewohnern eine Reihe von Anreizen und Rechten eingeräumt wurden. Zum Bei- spiel:
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Bild 2.6a:
Weiler (Rundling):
Gewachsener Hoftyp in Addition, meist eine Sippe oder mehrere Familiengruppen mit orga- nisierter Landwirtschaft und Viehhaltung.
Bild 2.6b:
Rundplatzdorf:
Ausrichtung der Höfe auf einen gemeinsamen Treffpunkt, Dorfplatz, Linde o.ä., später von der Kirche besetzt. Felder radial hinter dem Hof gelegen.
Bild 2.6c:
Haufendorf:
Lose Gruppierung von Einzelhöfen (Weilern) mit einer erkennbaren Orientierung auf eine platzar- tige Ausweitung (gemeinsame Weide, Wasser- platz später Kirche, Friedhof, Schmiede).
Bild 2.6d:
Straßendorf:(nach 12. Jh.)
An einer Straße aufgereihte Höfe, oft mit einer kaum erkennbaren Aufweitung, Eckpunkte durch Erweiterungen schwer erkennbar. Fel- derwirtschaft im Anschluss an die Hoflagen.
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Bild 2.6e:
Angerdorf:(13. u. 14. Jh.)
Bewusste Aufweitung der Siedlungsmitte mit Wiese, Teich, Kirche, Handwerkerhäusern, einfach bis hin zu repräsentativen Anlagen.
Bild 2.6f:
Waldhufendorf:
Reihung von gleichartigen Hofgruppen als Rodungsdorf in einer Kolonisierungszeit und - gegend. Hinter dem Hofgebäude Acker soweit gerodet, danach Waldflur.
– Märkte abzuhalten
– Bürgermeister und Rat zu bilden
– Verträge zu schließen und ein Siegel zu führen
– den Ort mit Mauern zu umgeben – bestimmte Abgaben zu erheben Später kamen die Rechte hinzu:
– eigene Münzen zu prägen
– Befreiung von bestimmten Abgaben oder vom Waffendienst usw.
Diese Rechte wurden allgemein als „Stadt- rechte“ bezeichnet.
Bild 2.7a:
Gewachsene Stadt des Mittelalters.
Fritzlar/Hessen:
Klostergründung des 8. Jh.; die Stadt entstand aus einem Straßenmarkt
Gegründete Stadt des Mittelalters:Lübeck Gründung der Handelsstadt zwischen den Kristallisationspunkten Domburg und Burg (aus dem 11. bzw. 12. Jh.) durch Heinrich den Lö- wen
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Die soziale Hierarchie wurde in bauliche Stufen umgesetzt. Das Bild der Stadt erhielt durch die baulichen Symbole eine große ge- stalterische Aussage sowohl in dem äußeren Erscheinungsbild als auch in der Folge von Plätzen und dominierenden Gebäuden im In- neren.
Die Kirche war Mittelpunkt nicht nur des sozi- alen und gesellschaftlichen Lebens, sie war auch räumlicher Mittelpunkt einer Stadt. Rat- haus und Markt, die Stadtpfarrkirche und die Klöster waren mit der Burg zusammen der typisch baulich räumliche Ausdruck der Ge- waltenteilung der mittelalterlichen Gesell- schaft.
Bild 2.8a: Münster i. Westfalen (ca. 1200)
Bild 2.8b: Herford (1150)
Bild 2.8c: Rothenburg o.d.T. (1250)
Bild 2.8 a-c: Mittelalterliche Siedlungsformen Sowohl die Zufälligkeit der Bebauung wie das Formgefühl der mittelalterlichen Bauherren ließen es nie zu axialen, symmetrischen oder geometrisch bestimmten Anordnungen kom- men, sorgten aber immer für sich optisch schließende Straßenräume.
Das Stadtbild entwickelte im Laufe der Zeit eine Fülle von Blickpunkten durch die Vorlie- be für Kirchen, Türme etc.. Brunnen stellte man nicht in die Mitte eines Platzes, sondern lieber verschoben gegen eine Platzecke. Alles wirkte zufällig. Interessant waren auch die Maßstabsbeziehungen der einzelnen Gebäude untereinander. Es konnte sein, dass ein beson- ders großes Gebäude durch ein sehr kleines nebenan hervorgehoben wurde. Mit wachsen- dem Reichtum der Stadt und daraus folgendem verstärktem Schutzbedürfnis wurden die Stadt- tore immer mächtiger und entwickelten sich oft zu wahren Torburgen.
Planstädte des Mittelalters
Die Kaiserpfalz, zunächst als Stätte öffentlicher Rechtsprechung gebaut, wurde Vorbild für die Bauten des Adels, aber auch für das Rathaus, das vom niederen Gericht zum Sitz der Selbst- verwaltung freier Reichsstädte aufstieg und damit Symbol städtischer Freiheit wurde. Von den Adels- und Klosterburgen übernahmen die Städte die Mauern, Befestigungsanlagen und
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den Namen: der Begriff »Bürger« für das lat.
civisentstand im Mittelalter. Dom, Rathaus und Stadtmauern wurden für Jahrhunderte die weit- hin sichtbaren »Wahrzeichen« der Stadt. Ihre Mitte jedoch blieb seit eh und je der Markt, dessentwegen Kaufleute und Handwerker Städte gebaut und mit der Welt über ihre Handelswege verbunden hatten.
Nach den häufigeren Straßennetzen lassen sich folgende Grundrisstypen unterscheiden:
a) Straßenmarkt- oder Langzeilentyp (C) als rein linearer Einstraßentyp (die Wike) oder zum Parallelstraßentyp (D) erweitert (Bern, Lemgo),
b) Querrippentyp oder abgewandelt zum Fischgrätentyp (F) (Prenzlau),
c) Rechteckiger Quadratrastertyp (G), ähnlich dem Schachbrett (Breslau),
d) radial-konzentrischerTyp(H)Nördlingen), e) Sonderformen, z.B. die ville envelopee
(E) = Stadt auf einem Hügel, deren Straßen den Höhenlinien folgend die Stadt »einhül- len«. Für den Stadtumriss fehlte ebenfalls ein Kodex. Die topographischen Gegeben- heiten wurden für den Schutz der Stadt und ihrer Handelswege ausgenutzt; von der freien Landschaft grenzte sie sich durch ih- re Mauern klar ab.
Bild 2.9: Planmäßige mittelalterliche Siedlungsgrundrisse
Renaissance
Im Gegensatz zu den gewachsenen und den gegründeten/geplanten Städten muss man nun von den erdachten Städten sprechen, im zuge der Zeitwende, die kulturgeschichtlich mit Begriffen wie Renaissance, Humanismus und Reformation umschrieben wird. Folgende Wandlungen erfolgen für die Stadt:
Rückgang der Machtstellung des Patriziats, machtaufsteigende Fürsten, Rückgang und Verlust der städtischen Freiheit, Ablösung der Silberwährung zugunsten des Goldes, neue
Handelswege zum Westen, vom Handwerk zur Manufaktur, Säkularisation, Umstellung des Verteidigungssystems
Theoretiker schlugen nun vielfach die Pläne der Idealstadt vor, unter anderem. Dürer.
Gemeinsam ist allen Idealstädten der Vor- rang des Befestigens und sie beziehen sich zumeist auf ein fürstliches Schloss oder eine Zitadelle. Anliegen des Bürgers, des Verkehrs, des Marktgeschehens etc. sind zweitrangig.
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Bild 2.11:Idealstadtpläne
In Italien, Frankreich und Deutschland entste- hen aus den Erkenntnissen antiker Vorbilder und den neuen exakten Wissenschaften geo- metrisch und mathematisch orientierte Stadt- pläne, die die neue Sicht der Welt auf das Zusammenleben der Menschen projizieren.
Formales Ebenmaß, die Harmonie der Teile, die sich zu einem Gesamtkunstwerk zusam- menfügen sind höchstes Gesetz. Die Gliede- rung der Stadt in ständig geordnete Wohnbe- zirke, öffentliche Gebäude und Plätze und ihre Verteidigungsmöglichkeiten bestimmen den Grundriss. Bei allen Beispielen dieser Zeit zeigt sich der Stadtmittelpunkt als freier Platz für die Selbstdarstellung und Selbstbestim- mung des freien Bürgers. Die Kirche und das Rathaus sind Teile des geometrischen Systems und erhalten ihre Lage nach der Bedeutung in der Gesellschaft.
Burg bzw. Schloss eines westlichen Herrschers kommt nur in wenigen Idealstadtplänen vor.
Die Fürsten regieren von Ihren Sitzen auf dem Lande die Städte. Von den Idealstädten ist fast nichts realisiert worden (Neu-Breisach, Long- wy).
Barockzeit
Erst über die Barockzeit (1600 - 1750) ge- winnen die Ideen, die über fast 200 Jahre entwickelt wurden, Eingang in die Realisie- rung. Die gesellschaftspolitische Verände- rung mit dem erstarkenden Adel und der Kirche nach der Gegenreformation führt zu axialen Anlagen und zu Stadtstrukturen, die auf den Herrschaftssitz bezogen sind. Die Fürsten bauen ihre Residenzen außerhalb der
Stadt (Versailles, Schönbrunn, Potsdam) und binden Stadt und Umland mit Gärten, Alleen und Kanälen in das Gesamtkonzept ein. Dem barocken Stadtgrundriss liegt wie in der Re- naissance ein strenges formalistisches Muster zugrunde, in das Plätze und öffentliche Ge- bäude eingefügt werden. Alles ist der zum Schloss führenden Achse untergeordnet.
Versailles und Vaux-le-Vicomte sind Vorbild für jeden mitteleuropäischen Fürsten. Nach dem 30-jährigen Krieg eifern alle mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dem französischen Hofe nach. So entstehen in den deutschen Kleinstaaten eine Vielzahl von barocken Residenzen in oder an den Städten, die großzügig und oft übersteigert angelegt werden, um den Erwartungen des Zeitgeistes zu entsprechen (Paris, Rom, Nancy, Mann- heim als Übergang Karlsruhe).
Bild 2.12:Der barocke Stadtgrundriss
Die Zunahme der Bevölkerung – auch durch Zuwanderung – erfordert schnelle und plan- mäßig angelegte Neustädte oder Stadterweite- rungen (Friedrichstadt, Hanau, Glückstadt, Freudenstadt).
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Bild 2.13:Deutsche Idealstadtpläne
19. Jahrhundert (1767 - 1933)
– starkes Anwachsen der Bevölkerung in Deutschland von 25 auf 65 Mill. Libera- lismus, Nationalismus Sozialismus, indus- trielle und soziale Revolution
– monumentale Bauaufgaben sonst Fabriken, Schlachthöfe Kraftwerke, Markthallen (keine Vorbilder vorhanden)
– Stadterweiterungen, Stadtumbauten – erstmals Aufstellung eines Bebauungspla-
nes (Plan von Hobrecht 1858 – 1861) für die Stadt Berlin.
– Dann Gartenstadtkonzepte 1917 Kiel-Gaar- den und Krupp Werks- Wohnsiedlungen.
1898 von dem Briten Sir Ebenezer Howard (1850 – 1928) konzipierter Stadttypus (»gar- den city«) mit sozialreformerischen Zielset- zungen: eine eigenständige, von Grünanlagen durchsetzte Siedlung in der Nähe übervölkerter Großstädte. Durch die Gartenstadt sollte das übermäßige Wachstum der Städte einerseits und die Landflucht andererseits verhindert werden. Arbeitsstätten, und gesundes Wohnen sollten miteinander verbunden werden. Nach dem Gartenstadtprinzip entstanden in Großbri- tannien nördlich von London Letchworth (1903) und Welwyn Garden City (1920), in Deutschland Hellerau (1907/08; heute Stadtteil von Dresden).
Bild 2.14: Kiel Gaarden